Biomechanische Aspekte in der Kieferorthopädie zwischen Bukkaltechnik und Lingualtechnik
Die Kraftapplikation in der Lingualtechnik (zur Zunge hin) liegt im Vergleich zur Bukkaltechnik (zur Wange hin) immer näher zum Widerstandszentrum. So unterscheidet sich grundsätzlich die Biomechanik der Lingual- mit der Bukkaltechnik, da der Kraftweg in der Lingualtechnik kürzer ist. Dieser reduzierte Abstand resultiert in der Lingualtechnik aus einem kleineren Moment, was die Torquekontrolle (Inklination) erschwert. Die intrusiven Kraftvektoren verlaufen nah am Widerstandszentrum, so dass eine unerwünschte bukkale (zur Wange hin) Kippung, wie sie in der Bukkaltechnik häufig auftritt, unwahrscheinlich ist. Sind aber die Inzisivi retroinkliniert (rückwertsgerichtet), ergibt sich ein linguales (zur Zunge hin) Wurzelmoment und eine Vergrößerung der Retroinklination.
Die morphologische Variabilität sowie die anatomischen Besonderheiten der Lingualflächen (z. B. ausgeprägte Randleisten, Cingual, akzessorische Höcker, Invaginationen) sind biomechanisch zu berücksichtigen. Bereits geringe Änderungen bei der Bracketpositionierung in der Vertikale führen zu unerwünschten Bewegungen in dritter Ordnung.
Abgesehen von den unterschiedlichen Momenten zwischen Lingual- und Bukkaltechnik ist zudem noch mit dem Interbracketabstand ein weiterer biomechanischer Faktor zu berücksichtigen. Die Steifigkeit in der Lingualtechnik ist annährend dreimal größer für die 1. und 2. Ordnung sowie ca. 1,5 Mal größer für die 3. Ordnung.
Das erschwert die Rotation, die Aufrichtung sowie die Nivellierung besonderes in der Front. Besonderes in der initialen Phase und endgültige Detailierung, wo Flexibilität unerlässlich ist, sollte dies in Erwägung gezogen werden.
Außerdem eröffnet das Interbogenradiusverhältnis in der Lingualtechnik bei der Expansionstherapie gewisse Vorteile im Vergleich zur Bukkaltechnik. Ein lingualer Bogen ist kleiner als der bukkale Bogen. Wird der linguale Bogen einligiert, welcher transversal schmaler ist, werden die Zähne im Vergleich zur Bukkaltechnik stärker unter Expansionsdruck gesetzt. Bei einem schmalen Kiefer ist es deshalb leicht, mittels der Lingualtechnik zu therapieren.